einander

 

 

Ich schalte den Fernseher an, es ist der 2.3.2022. Seit sechs Tagen erschüttern mich die Bilder, die ich auf allen Kanälen sehe. Ich kann es nicht glauben: es ist Krieg. Es ist Krieg in Europa. Und es ist Russland, das diesen Krieg begonnen hat. Ich will es nicht glauben, doch das Unfassbare wird durch die Bilder am Bildschirm nicht begreiflicher.

 

 

Genau seit sechs Tagen lebe ich mein Leben in einem Hotel, an einer Grenze zweier Länder: eins davon hat den Stempel „neutral“, eines ist NATO-Mitglied. Das neutral gestempelte muss sich nicht positionieren. Das andere ist Teil eines größeren Ganzen. Ich stelle mir die Frage, welches von beiden die bessere Lage sei.

 

 

Seit sechs Tagen versuche ich, die Portionen auf meinem Teller am fein gedeckten Tisch des Restaurants so anzupassen, dass ich am Ende das Hotel nicht als gefüllte Teigrolle verlasse. Dabei muss ich sorgsam wählen, die richtigen Entscheidungen treffen: nehme ich die Suppe oder doch besser nicht, toppe ich den Salat mit Joghurtdressing oder bestelle ich stattdessen lieber nur die halbe Portion der Hauptspeise. Und auf den Kuchen - verzichten?

 

 

In diesen sechs Tagen können andere währenddessen nicht genug bekommen. Nicht genug von Marschplänen und Einsatzbefehlen, nicht genug davon, Lügen und Anschuldigungen zu verbreiten, nicht genug von Drohungen und Allmachtsfantasien, nicht genug davon, 60 kilometerlange Panzerkolonnen aufzureihen vor einer einzigen Stadt.

 

 

Innerhalb von sechs Tagen konnten sich andere nicht mit genügend Waffen und Munition versorgen, um eine Ahnung von Sicherheit zu bekommen, mussten sich von jetzt auf gleich trennen – ohne voneinander Abschied nehmen zu können - die Mütter von ihren Kindern, die Frauen von ihren Männern, die Väter von ihrer Familie. Und viele verloren indes einfach ihre Lebenszeit.

 

 

Während ich schreibe, google ich. Wie viele Opfer forderten diese sechs Tage Krieg? Wikipedia, verlässlicher Garant der Informationen: mehr als 102 zivile Tote oder mindestens 2000 zivile Tote in dem Land, gegen das Krieg geführt wird. Das Internet liefert die Information in Sekunden. Eintippen, klicken, da steht es, sauber in schwarzer Schrift, Calibri, pt. 11 auf weißem Untergrund. Ich lese Fakten, die Wahrheit, das Schwarz auf Weiß vermittelt Sicherheit und schafft gleichzeitig Distanz. Ich bin versucht, mich durch einen schnellen Klick eilig von meiner Betroffenheit zu entfernen.

 

 

Unerträglicher als sonst: die Gespräche der Hotelgäste gezwungenermaßen mit anzuhören, im Pool, wo auch das Abtauchen unter Wasser nichts hilft, weil ich irgendwann wieder auftauchen muss, bevor die Lunge sich mit Wasser füllt. Übelkeit, die sich in mir ausbreitet und die nicht vom Geruch des Schwefels des Thermalwassers ausgelöst wird. Sätze der Ewiggestrigen, die grundsätzlich mit „Früher…“ beginnen, die es wohl nie schaffen werden, im Heute anzukommen. Es ist mir unerträglich, und trotzdem bleibe ich. Ich passe, passe mich an, klappe die Ohren zu und die Zeitung auf. Und stelle seit sechs Tagen beim Nachmittagskaffee fest, dass der „Standard“ die einzig unberührte Zeitung in der Hotelbar ist. So bleibt sie mir, frisch, unberührt. „Fast wie daheim“, denke ich, als hätte ich sie frisch aus der Zeitungsrolle geholt und würde sie behaglich bei Kaffee und meinem Marillen-Marmeladesemmerl lesen.

 

 

Es beschämt mich, mein warmes, mein gemütliches, mein sattes, mein sicheres Leben. Hier im vulkanwarmen Wasser zu dümpeln, meinen Rücken auf heißen Moorpackungen zu entspannen, in Dampfkabinen feuchte, kräutergeschwängerte Luft zu inhalieren, während andere seit sechs Tagen auf kalten U-Bahn-Böden schlafen, mit leeren Bäuchen und angstvollen Seelen, die nicht wissen, ob sie morgen noch leben werden.

 

Genug? Ja, es reicht!

 

 

F…ing Russland, hör auf, unschuldige Menschen zu bombardieren, ihnen ihr Land, ihr Leben zu nehmen, ihnen kein Morgen gewiss sein zu lassen. F…ing Putin, inszenier nicht falsche Gespräche an hochglanzpolierten meterlangen Tischen, die außer leere Worte nichts bringen. Vielleicht blickst du abends in den Spiegel, Wladimir, und fragst dich, wer der Beste, der Größte, der Mächtigste im ganzen Land, oder nein, wohl eher: auf der ganzen Welt sei, dann sieh genau hin! Schau dir in die Augen! Und wenn du dort einen Hauch von Seele erkennst, dann hör auf mit diesem, mit deinem Krieg, den keiner will!

 

 

Ich habe einen Traum und in diesem wünsche ich dir, dass dir ein kleines Wort in den Sinn komme. Es ist so klein und unscheinbar, dass man es leicht übersieht, ein Wort, das nicht viel ist, aber alles kann: „einander“ 1.

 

 

 

 

1  einander: gegenseitig (lt. Definition Oxford Languages)

 

1.      für einen in Bezug auf den anderen und umgekehrt zutreffend; „gegenseitiges Verständnis, gegenseitige Achtung“

 

2.      beide Seiten betreffend, „gegenseitige Abmachung“