Hier kannst du dir einen kleinen Einblick in die knifflige Welt von Perecs Buchkomposition "Das Leben - Gebrauchsanweisung" verschaffen:

 

 

Der Aufbau des Buches ist faszinierend, es ist ein Meisterwerk in seiner Form. Georges Perec, Vertreter und Mitglied der Gruppe OuLiPo, schuf mit "Das Leben - Gebrauchsanweisung" ein Buch, das auf einem komplexen mathematischen Regelwerk gründet, das einen ob seiner Komplexität schier ratlos werden lässt. Perec erzählt in "Das Leben - Gebrauchsanweisung" die Geschichten der Bewohner eines Hauses. Dazu klappt er die Fassade des Hauses auf und teilt jedes Stockwerk in 10 Etagen und folgt vom Keller über die Zimmer der Wohnungen, den Aufzug, bis unters Dach im Erzählstrang aber nicht aufeinander aufbauenen Geschichten, sondern er wählt für die Abfolge die Methode des Rösselsprungs - bekannt aus dem Schachspiel der Figur des Pferdes. Er setzt das Buch aus 99 Teilen zusammen, in denen er puzzleartig das Lebensprojekt des Protagonisten Bartlebooth  beschreibt. So gelingt es ihm, alle 99 Kapitel so anzuordnen, dass kein Feld 2 Mal vorkommt.

 

 

Und nun wird es richtig knifflig: nicht genug von solcher Ordnung. Perec greift auch noch auf das mathematische eulersche Quadrat zurück, wählt die Ordnung 10. Er führt nebenbei ein Pflichtenheft, worin für jedes Kapitel eine Liste mit 42 Themen notiert ist. Für jedes Kapitel sind somit 42 Elemente vorgegeben, die dort und nur in dieser Kombination unterzubringen sind. Beispielsweise eine Kopfbedeckung, Kleidung, Räumlichkeiten, Autornenamen, Farben, Themen, Operntitel usw. Insgesamt verwendet er 21 solcher eulerschen Quadrate mit jeweils 100 Feldern, die er in den 99 Kapiteln unterbringt.

 

 

Immer noch nicht genug? Nein - er baut außerdem 3 zusätzliche Regeln in jedem Kapitel ein:

- In jedem Kapitel gibt es einen Bezug auf einen seiner Texte.

- In jedem Kapitel kommt ein Gegenstand oder Ereignis vor, der oder das ihm während des Schreibens begegnete.

- Und als Drittes erfindet er die Bedingung, in jedem Kaptel die Koordinaten des zugehörigen Feldes aus der Rösselsprung-Lösung zu nennen (manchmal auch versteckt - eh klar ;)

 

 

Man kann nicht sagen, das das Buch leicht zu lesen wäre. Es ist ein verrätselter Plot, der sich in keiner Weise leicht erschließt. Perec verwendet außerdem Zitate und Motive von vielen anderen Autoren, führt sie als Zitate erkennbar, aber auch versteckt oder nicht im richtigen Bezug an.

 

 

Und er gibt Rätsel auf: sie tauchen direkt oder indirekt in Form von Kreuzworträtseln auf.

 

 

Er verleiht den Buchstaben X, V und W eine besondere Bedeutung: er setzt das W (ein verwandeltes doppeltes V) in Bezug zum Hakenkreuz, dem SS-Zeichen und schließlich dem Judenstern. Das umgedrethe W gleicht dem M, was im Französischen für mort (Tod) steht. W und X als Zeichen für den Verlust und die Vernichtung seiner Eltern im 3. Reich.

 

 

Und schließlich ist auch noch das Kompendium, das in Kapitel 51 aufgeführt ist, zu erwähnen: es ist ein streng formales Gedicht über die Heerschaar seiner Figuren mit ihren Geschichten, Vergangenheiten. Jeder Teil dieses Kompendiums ist ein Quadrat aus 60 x 60 Anschlägen. Die Zeilen jedes Teils bilden eine geometrische Folge. Es ist eine Aufzählung von Personen und Geschichten. Es benutzt die rhetorische Figur der Wiederholung, es hat einen Rhythmus und es hat ein Clinamen (Auslassung). Und es hat eine versteckte Aussage.

 

 

Perec hat in diesem Roman mit einem gigantischen selbstauferlegten Regelwerk gearbeitet. Diese Art des Schreibens steht ganz im Gegensatz zu der Methode des assoziativen und freien Schreibens, bei dem es sehr darum geht, eigene innere Prozesse und Gedanken, Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Doch bietet die Arbeit mit solchen Spielformen von Regeln und contraintes eine ganz andere Intensität, sich mit eigenen Mustern auseinanderzusetzen. Man wird zum Erschaffenden von Ordnungen und Welten, in die man sich als Schreibende/r einfügen muss und von denen man oft nur als Schreibender selbst weiß.

 

 

Für die Süddeutsche Zeitung hat Stefan Zweifel 2017 einen sehr interessanten Artikel über Perecs "Das Leben-Gebrauchsanweisung" verfasst. Hier kannst du ihn nachlesen.

 

 

Der Diaphanes Verlag hat Perecs Werke neu aufgelegt - eine wunderbare Sammlung, die zum Großteil von Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt wurden. Hier habe ich einige Buchtitel aus Perecs Werk angeführt:

 

 

 "Träume von Räumen" Dazu aus dem Klappentext:

"Vom leeren Blatt Papier über das Bett, die Treppe, die Wand, das Mietshaus, die Straße über das Land und die Welt ins Universum: Träume von Räumen durchmisst spielerisch Raum und Räume, vom Allernächsten bis hin ins Fernste. Sogenannte praktische Übungen (»Durchqueren Sie Paris, aber nur durch Straßen, in deren Name ein C vorkommt!«) unterbrechen die Anordnung mit federleichter Konkretheit, und sehr persönliche Miniaturen sorgen dafür, dass das Spiel niemals im Unverbindlichen verbleibt. Ein idealer Einstieg in die Lektüre Georges Perecs.

"La Disperation": zu deutsch: "Anton Voyls Fortgang": ein lipogrammatischer Roman ohne der Verwendung des Buchstabens "e".

 

"Les Revenentes": das Gegenteil: ein Roman mit der Verwendung von Wörtern, die ausschließlich den Vokal "e" beinhalten.

 

"Le Grand Palindrome de Georges Perec" und viele weitere Werke.